A Deeper Shade of BROWN – “Hinter der Tür”

Braun … sicher auf den ersten Blick nicht die inspirierendste Farbe. (Und ja – auf den zweiten auch nicht.)
Ich kann mich noch gut an das erste Brainstorming erinnern: Schokolade, Erde … hmmm … Teddybär … politische Gesinnung?

Gottseidank fiel mir dann ein, dass ich nicht zwingend auf etwas ganz Neues angewiesen war. Ich hatte da ja noch eine Geschichte ‘in der Schublade’, bei der es ganz zentral um eine massive braune Holztür ging. Allerdings war dieser vorhandene Text auf Englisch, und zudem kurz und kryptisch gehalten. Alles in allem eher ein erweiterter Drabble, eine Art Fragment. Wie das wohl als Kurzgeschichte funktionieren würde? Die Antwort ist wie so oft: Besser als gedacht.

Ausserdem markiert diese Geschichte den Übergang in den ‘dunkleren’ Bereich der Farbpalette; und war zusammen mit Grau und Schwarz der Grund für das Wort ‘Staub’ im Titel von Staub und Regenbogensplitter.


Erst mal ein paar Eckdaten:doorknocker-1946649_1280

Titel: Hinter der Tür

Genre: Historical Fantasy/Mystery

Themen/Stichworte: Familie, Vergangenheit, Erinnerungen, Entscheidung, Rache

Länge:  5 Seiten

Tagline: Auch ein einzelner Ast kann zum Pfeil werden.

Pitch: Die Wahl zwischen Liebe und Hass ist manchmal schwerer, als man glaubt. Wem soll man die Treue halten – der Person, die man liebt, oder der Familie, der man verpflichtet ist?


Woher kam die Idee?

Wie Rot geht auch die Grundidee zu dieser Geschichte auf ein Lied zurück. Den englischen ‘Urtext’ mit dem Titel Let It End habe ich für eine befreundete Sängerin/Songwriterin geschrieben, nachdem ich ihr gleichnamiges Lied zum ersten Mal gehört hatte.

Wie man sehr schnell merkt, handelt es sich um einen Game of Thrones Fan Song; und ja, man kann gewisse Ähnlichkeiten zwischen meinem Text und einer gewissen Plotline der Erfolgsserie erkennen: bei beidem geht es um das Auslöschen einer Familie und die beinahe symbolische Bedeutung, die dieses Ereignis später erlangt. Allerdings ist das ein Motiv, welches uns nicht nur in zahlreichen anderen Romanen begegnet, sondern auch immer wieder in der Geschichte. Meine ursprüngliche Inspiration war – vielleicht ähnlich wie bei George R.R. Martin – ein reales Ereignis, nämlich das Massaker von Glencoe. Daraus entstand schon vor einiger Zeit eine Romanidee und erst viel später beim Hören des Liedes der vorliegende Text (als eine Art ‘Outtake’ oder Charakterstudie).

Davon abgesehen empfinde ich den Vergleich mit Game of Thrones natürlich als grosses Kompliment 😉


Wer ist der Erzähler?

Hier möchte ich zunächst einen Exkurs machen und kurz über ein Phänomen sprechen, das ich persönlich sehr interessant finde: wie der Leser die Lücken in einem Text mit Informationen füllt, selbst wenn diese Informationen gar nicht vorhanden sind.

Wir erleben dieses Phänomen jedes Mal, wenn der Cast für die Verfilmung eines Buches vorgestellt wird. Während die einen begeistert sind (“Genauso habe ich mir A vorgestellt.”, “So wird B ja auch auf Seite 3 beschrieben.”), stösst die Auswahl bei anderen auf blanke Ablehnung (“Das passt ja gar nicht!”). Und ja, es scheint egal zu sein, wie ausführlich die Figur in der Vorlage beschrieben wurde, oder ob überhaupt. Selbst wenn es so gut wie keine Angaben zum Aussehen gibt, wird ein Teil der Leser sich die Figur genau so oder so ähnlich vorgestellt haben, ein Teil ganz anders.

Die Frage ist nun: ist diese Vorstellung wirklich so willkürlich, wie wir glauben? Ab und zu fällt auf, dass sich Leser z.B. eine ganz bestimmte Haarfarbe vorstellen, obwohl dies in der Geschichte nie erwähnt wird, oder über das Alter einer Figur überraschende Einigkeit herrscht, obwohl keine konkrete Angabe dazu zu finden ist. Daher gibt es die Theorie, dass Leser bestimmte ‘Taktiken’ zur Lückenfüllung anwenden, die zum Teil universal sind und daher solche Übereinstimmungen hervorrufen.

Was das mit meiner Geschichte zu tun hat? Nun, auch hier wird das Äussere des Erzählers – ausser einem einzigen Detail – nicht beschrieben, aber es geht noch einen Schritt weiter: genau genommen erfährt man in der gesamten Geschichte nicht, ob es sich um einen Erzähler oder eine Erzählerin handelt. Es wird nie erwähnt, und es gibt auch keine Andeutung wie Haarlänge oder Kleiderwahl. Trotzdem sind sich viele Leser der Geschichte vollkommen oder zumindest eine Zeitlang sicher, dass es sich um eine weibliche Figur handelt. Warum?

Nun, eine Theorie besagt, dass der Leser bei totalem Mangel an Hinweisen dazu tendiert, das eigene Geschlecht auf den Ich-Erzähler zu übertragen – wegen der Identifikation, die durch das ‘ich’ erzeugt wird. Bei der vorliegenden Geschichte gingen allerdings auch männliche Leser davon aus, das es sich um eine Frau handelt; was dieser Theorie widerspricht.

Fragt man nach, woran diese Überzeugung festgemacht wird, oder wann die Erkenntnis einsetzt, verweisen die meisten Leser auf dieselbe Stelle: den Moment, als der Erzähler/die Erzählerin eine bestimmte tote Person entdeckt und darauf mit Entsetzen und unbändiger Trauer reagiert. Und der Tote – so erfahren wir – ist ein Mann.

Hier kommt wohl eine weitere, sehr wichtige Theorie zur Lückenfüllung ins Spiel: unsere Kenntnis anderer Geschichten. Im Drama werden verstorbenen männliche Figuren meistens von weiblichen Figuren betrauert, oft handelt es sich entweder um Verwandte (Tochter – Vater, Mutter – Sohn, Schwester – Bruder) oder um Personen in einer Beziehung. Gerade letzteres spielt eine grosse Rolle – tragische Liebesgeschichten von Romeo und Julia bis Pearl Harbor sind stark in unseren Köpfen verankert.

Interessanterweise äussern einige der Leser gegen Ende Zweifel daran, dass der Erzähler wirklich eine Frau ist. Diese Zweifel sind schwerer an einer Textstelle festzumachen; eventuell hat die Andeutung von Rache damit zu tun – obwohl ja auch Kriemhild in der Nibelungen Sage blutige Rache schwört und durchführt, ist es immer noch eher eine ‘männliche’ Domäne.

Und was stimmt nun?

Um ganz ehrlich zu sein: beides.

Es wird natürlich nirgendwo in der Geschichte explizit gesagt oder erklärt, aber der Hintergrund ist folgender: Der Erzähler ist eine männliche Figur, hat aber – wie gegen Ende angedeutet – Zugriff auf ‘Erinnerungen’, die nicht seine eigenen sind und die sich in Träumen und Visionen manifestieren.

Ich hatte nie wirklich eine Familie. Ich hatte nie einen Grossvater, der mir Geschichten erzählt hat. Alles, was ich habe, sind die Erinnerungen, die auch nicht meine sind.

Der Anfang stellt eine solche Erinnerung da – nämlich die seiner Mutter. Der Mann, den sie tot findet, ist der Vater des Erzählers – also eine Person, die sie liebt und die ihr viel bedeutet. Der Erzähler allerdings sieht im Traum nicht den Vater, sondern jemanden, für den er genauso empfindet, also seine eigene grosse Liebe (die ‘er’-Figur in der Geschichte) – daher die Verwirrung nach dem Aufwachen.


Geschichten, Erinnerungen – und Geheimnisse

Neben dem offensichtlichen Hauptthema, auf das ich im nächsten Absatz eingehe, sind dies weitere Elemente, die in der Geschichte anklingen.

Nicht zufällig beginnt sie mit der Erinnerung an eine Geschichte, die der Grossvater erzählt, und leitet dann über zur Geschichte der Familie und des Landes, das sie bewohnen. Später erfährt man, dass diese ‘Erinnerung’ des Erzählers nach eigener Aussage nicht die eigenen sind, und dass dies ein Geheimnis ist, das er sorgfältig verbirgt – sogar vor der jemandem, der ihm viel zu bedeuten scheint. Oder vielleicht gerade deshalb.

Und auch der Leser hat das Gefühl, nicht alles zu erfahren. Was konkret ist mit der Familie geschehen und warum? Kann man den Angaben des Erzählers trauen? Welche Entscheidung trifft er am Ende genau, und warum?


Familie

Ja, Hinter der Tür ist eine Geschichte, die man sehr leicht als düster bezeichnen kann. Im Zentrum steht ein Massaker, das Auslöschen einer ganzen Familie, und dessen Folgen. Daneben gibt es auch Andeutungen, dass der geistige Zustand des Erzählers nicht gerade stabil ist (die Stimmen), und dass es in Zukunft um Rache gehen wird.

Und trotzdem gibt es etwas Positives in all dem Düsteren, denn letztlich geht es auch um etwas sehr Wichtiges und in der Regel Positives – die Familie.

Da ist zum einen die beinahe rührende Szene am Anfang, mit dem Grossvater, der dem Enkelkind alte Sagen und Legenden vom Ursprung ihrer Familie erzählt.

Und da ist das Bild vom Baum – einem Symbol für Wachstum und Leben – das einen durch die ganze Geschichte begleitet.

Nicht umsonst hat das Wort Stamm zwei Bedeutungen. Eine Familie ist wie ein Baum. Die Ahnen sind die Wurzeln, die weit in den Boden hineinreichen und das Fundament bilden. Sie sind immer da, und sie sind der Ursprung von allem, auch wenn wir uns dessen nicht allzeit bewusst sind. Die Ältesten sind der Baumstamm, der die Verbindung zu dem Ahnen schafft und alles zusammenhält, die Eltern die dickeren Äste. Und wir, die jüngsten Nachkommen, bilden die dünnen Äste, die aus den stärkeren hervorgehen, die zum Licht hin wachsen und den Baum verbreitern. Alles ist Teil eines grossen Ganzen.

Der Erzähler vergleicht sich zwar stets nur mit einem kleinen Ast, fühlt sich aber dennoch als Teil des Ganzen; ein Teil, der letztlich auch grosse Bedeutung erlangen kann:

Ich mag nur ein einzelner Ast sein, der übriggeblieben ist, nachdem der Baum gefällt und das Wurzelwerk herausgerissen wurde. Aber auch ein einzelner Ast kann zum Pfeil werden.


Welche Rolle spielt das Braun?

Eine durchgängige, denn die Farbe findet sich in der ganzen Geschichte wieder. So führt eine direkte Verbindung vom Baumstamm – der die Familie repräsentiert – zur (hölzernen) Tür aus dem Titel, und zum Element Erde, der das Land symbolisiert, auf dem die Familie lebt:

Eine Legende besagt, dass dieser Boden in zahlreichen Kämpfen mit dem Blut der Menschen getränkt wurde, die ihn verteidigten. Das Blut meiner Familie hat dieses Land zu dem gemacht, was es ist. Es färbte den Boden und das Holz der Bäume, gab ihrem Braun den rötlichen Unterton. Wir und das Land, wir sind eins.

Die Wurzeln, die Äste und der Pfeils (der ja aus einem Ast gefertigt wurde) greifen dieses Bild gegen Ende auch nochmals auf.

Dass gerade die Tür eine wichtige Rolle spielt, wird schon aus dem Titel deutlich. Es gibt drei Türen in der Geschichte, die der Erzähler durchschreitet – und jedes Mal ist dieser Schritt auch eine ‘Grenzüberschreitung’, ein Übergang.
Zunächst ist da die Tür aus dem Traum, auf deren anderer Seite sich das Grauen und der Tod befindet, und die der Erzähler durchschreitet, obwohl er es eigentlich nicht möchte und schon weiss, was ihn erwartet.
Kurz nach dem Aufwachen stösst er dann eine Zimmertüre auf, um der Situation zu entkommen, die für ihn im Moment unerträglich ist – obwohl diese Flucht auch bedeutet, einen eigentlich sicheren Raum zu verlassen.
Die dritte Tür ist dann die zu einer Art Kirche, wo der Erzähler sich seinen Dämonen stellen muss, ein Ort der Machtlosigkeit, aber am Ende auch der Erkenntnis.

Neben dem allgegenwärtigen Braun hat auch meine Lieblingsfarbe Blau wieder ihren kurzen Gastauftritt – ganz am Ende wird die Augenfarbe des Erzählers erwähnt, und durch den Hinweis mit dem Sommerhimmel eine Verbindung zu zwei weiteren Geschichten geschaffen, nämlich Blau und Orange, wo exakt derselbe Satz fällt. Und das ist natürlich kein Zufall; es handelt sich in der Tat in allen drei Geschichten um dieselbe Figur, die so beschrieben wird 😉
(Der Erzähler von Orange ist übrigens die ‘er’ Figur in diesem Text.)


Was bedeutet das Ende?

Es ist natürlich in gewisser Weise offen, aber die gängigste Interpretation ist wohl folgende:
Am Ende akzeptiert der Erzähler die Aufgabe, die ihm (sozusagen von seiner Familie) zugewiesen wird, und erweist sich damit als jemand, der die Tradition fortsetzt:

Andere Familien führen Wahlsprüche, die aus vielen eindrucksvollen Wörtern bestehen. Voller Stolz, voller Pathos, und doch letztendlich nur leere Worte, weil sie entweder noch nie irgendetwas bedeutet oder weil die Taten ihrer Familien ihnen jeden Inhalt und jeden Sinn geraubt haben. Unser Motto dagegen ist nur ein einzige Wort: Treue. In Eisen gegossen, in Stein gemeisselt. Ich kann nichts dagegen tun, es liegt mir im Blut.

Welche Aufgabe das genau ist, und wie weit der Erzähler gehen wird, bleibt allerdings offen.


Bonus: Soundtrack

music2Da ich meine Szenen oft wie kleine Filmsequenzen vor meinem inneren Auge sehe, und da nichts Stimmung besser transportiert als Musik, gibt es eigentlich für jedes noch so kleine Projekt eine Soundtrackliste.

Da die Geschichte von einem ganz besonderen Lied inspiriert ist, ist die Auswahl hier offensichtlich:

Karliene, Let It End


Dir ist noch etwas aufgefallen? Du möchtest von einer eigenen Geschichte erzählen? Du hast eine ganz andere Interpretation, oder eine Frage? Toll, dann schreib mir doch einen Kommentar. Ich würde mich freuen 🙂


Hier gehts zurück zur Übersicht.


Quellen der verwendeten Bilder:
Erstes Bild mit Zitat: unbekannt, gefunden auf pinterest
alles andere: pixabay

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