Leseprobe aus “Tiefe Wasser” (Blau)

abstract-19175_960_720Mit einem verschwörerischen Zwinkern stellt mir die Tochter des Gastwirts ein neues Glas Wein hin. Ich lächle zurück, aus reiner Höflichkeit.

Zugegeben, dieses ‚Gasthaus‘ – falls es den Namen überhaupt verdient – ist ein Ort, um den ich für gewöhnlich einen weiten Bogen machen würde. Niedrige Decke, grob gemauerte Wände, ungenießbarer Wein und ein Publikum, das zur Hälfte aus Unterschichtsgesindel und zur anderen Hälfte aus Kleinkriminellen besteht. Und doch gibt es einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Schenken in den besseren Vierteln der Stadt, wo ich mir für gewöhnlich mit meinen Kameraden nach Feierabend ein Glas genehmige. Wenn es um Vergnügungen geht, ist hier so gut wie alles möglich. Niemand fragt, niemand urteilt. Und genau das ist es, was ich ab und zu brauche.

Zum Teufel mit Joan, die mir bereits jetzt auf die Nerven geht mit ihrem Kichern und ihrem endlosen Geschwätz. Zum Teufel mit ihrem Vater, dem ewig mürrischen Kommandanten der Stadtwache und meinem direkten Vorgesetzten, dem ich nie etwas recht machen kann. Der heutige Abend gehört mir alleine, und ich habe mir vorgenommen, ihn zu genießen. Und bei Gott, das werde ich.

 

Er ist mir sofort aufgefallen, als er den Raum betreten hat. Nicht gerade groß gewachsen, eher zierlich, aber mit einem entschlossenen Schritt und einer stolzen, aufrechten Haltung, die ich nur allzu gut kenne – allerdings ausschließlich von Angehörigen der Oberschicht. Ein schmales, leicht blasses Gesicht, umrahmt von langen dunkelbraunen Haarsträhnen, die vereinzelt im Licht aufleuchten wie gesponnenes Kupfer. Auf den ersten Blick wirkt alles an ihm weich, fast mädchenhaft. Genau mein Typ, die richtige Mischung aus Unschuld und dem absoluten Gegenteil.

Und dann die Augen. Diese Augen. Es ist nur ein Moment gewesen – ein kurzer Blick in die Runde, der mich leider bloß gestreift hat wie alle übrigen Gäste auch – aber er hat vollkommen ausgereicht. Noch nie zuvor habe ich so ein leuchtendes Blau gesehen.

Ich betrachte den Wein in meinem Glas und nehme einen weiteren Schluck, während ich in Gedanken mögliche Optionen vergleiche wie ein Goldschmied, der den besten Stein für einen Ring auswählt.

Jemand hat ihm ebenfalls ein Getränk gebracht, das aber immer noch unberührt ist. Seine ganze Aufmerksamkeit ist auf etwas anderes gerichtet, etwas, das er fast spielerisch in den Händen hin- und herdreht. Vorsichtig riskiere ich einen weiteren Blick. Es scheint sich um ein Schmuckstück zu handeln, eine silberne Kette mit einem Anhänger aus demselben Material. Seltsam, wirkt er doch sonst nicht gerade wohlhabend. Ein einfacher dunkler Umhang, graue Hosen, ein weißes Hemd mit halblangen, weiten Ärmeln und blauen Stickereien. Traditionell wäre die höfliche Bezeichnung. Hinterwäldlerisch die konkretere.

Ein Fremder also. Nicht aus der Stadt, wahrscheinlich nicht einmal aus einem der angrenzenden Dörfer. Eher irgendwo aus dem Hinterland.

Mein Glas ist wieder leer, und ich habe lange genug gewartet. Wie beiläufig nähere ich mich dem Tisch, und wie beiläufig eröffne ich das Gespräch. „Stimmt es eigentlich, dass man im Norden immer noch Magie praktiziert?“

Er zieht eine Augenbraue hoch, sieht aber nicht auf. „Stimmt es eigentlich, dass man in der Stadt immer noch glaubt, dass wir das tun?“

Oh Wunder, er beherrscht die Hochsprache perfekt. Trotzdem hat seine Stimme diesen unverkennbaren, singenden Tonfall des Nordens. Mit einem breiten Lächeln setze ich nach: „Mich hast du auf jeden Fall verzaubert.“

Langsam hebt er den Blick. Aus der Nähe wirken seine Augen noch klarer, noch strahlender. Ein perfekter Sommerhimmel.

„Ich dachte, ich könnte vielleicht einen Wein ausgeben.“ Mit einem Nicken in Richtung des immer noch unberührten Glases füge ich hinzu: „Etwas Besseres als dieses Gesöff, natürlich.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, ziehe ich den Stuhl heran und setze mich. Mein Blick fällt auf seine Hände  – lange, schmale Finger, sehr vielversprechend – und die Arme, soweit die Ärmel sie freigeben. Fasziniert bemerke ich die Tätowierungen – filigrane Linien und Ornamente, die sich wie geflochtene Bänder um den Unterarm der rechten und das Handgelenk der linken Hand winden.

Ich winke die Wirtstochter heran und trage ihr in knappen Worten auf, mehr Wein zu bringen. Und trinkbar diesmal, wenn möglich. Ihr Lächeln ist immer noch da, wirkt nun aber deutlich gefroren. Nicht, dass es mich interessiert hätte.

„Verschwendet euer Geld nicht, garda.“

Für einen Moment bin ich verwirrt. Woher weiß er, dass ich für die Stadtwache arbeite? Ich trage schließlich keine Uniform, nicht an einem Ort wie diesem. Nach kurzer Überlegung entscheide ich jedoch, dass es keine Rolle spielt. Natürlich wäre es fatal für mein Ansehen und meine Verlobung, wenn mein kleines Freizeitvergnügen herauskäme. Aber Wort gegen Wort, wem wird man im Zweifelsfall glauben?

„Es ist keine Verschwendung, wenn man genug davon hat.“ Er sollte besser merken, dass er es mit einem Mann von Stand und Einfluss zu tun hat. Einem Mann, den man nicht abweist.

(…)


Text: Auszug aus Staub und Regenbogensplitter: 13 dunkelbunte Geschichten
ISBN: 978-3-7450-3923-8

(Erstveröffentlichung in Farbspiel Blau; Karina Verlag, Wien)

Bild: pixabay