Ein grosses Thema in Das Leuchten am Rande des Abgrunds sind Geschichten. Die Tatsache, dass viele Menschen offensichtlich keine erzählende Literatur mehr lesen, ist nur ein weiteres Vorzeichen des langsamen Untergangs – denn nichts ist so eng mit der Geschichte der Menschheit verknüpft wie Erzählungen.
Alexandre Dumas, Der Graf von Monte Christo
Der ursprünglich als Fortsetzungsroman veröffentlichte Werk zählt bis heute zu den bekannstesten Titel der französischen Literatur, was sich in unzähligen Übersetzungen und Adaptionen äussert. Vielen ist nicht bewusst, dass der Autor (dem wir übrigens auch Die drei Musketiere verdanken) ein farbiger Mann war, der Sklaven unter seinen Vorfahren hatte.
Bezeichnend ist für mich, wie klar der Roman aufzeigt, dass Rache zwar (kurzzeitig) Befriedigung verschaffen, aber – vor allem, wenn sie aus dem Runder läuft – am Ende keine Gerechtigkeit herstellen kann. Auch in Leuchten führt Rache nur zu Einsamkeit und Isolation.
Mary Shelley, Frankenstein
Keine Geschichte über Wissenschaft ohne einen Hinweis auf Frankenstein, oder? Aber diese Geschichte ist so viel mehr als nur eine Kritik am “Gottkomplex” vieler (moderner) Wissenschafler.
Wie unglaublich ist allein schon die Backstory: ein Schreibwettbewerb unter Autoren, den ausgerechnet die absolute Aussenseiterin (in vielerlei Hinsicht) gewinnt. Zu unglaublich? Ja, denn es gibt auch berechtigte Zweifel an dieser Entstehungsgeschichte.
Auch Marys Biographie liest sich wie ein Roman – ihre Familie (ihr Vater war der Sozialphilosoph und Begründer des politischen Anarchismus William Godwin, ihre Mutter die Schriftstellerin und Feministin Mary Wollstonecraft), ihre Reisen, ihre Bekannstschaften, die Beziehung zu ihrem späteren Ehemann Percy Bysshe Shelley (über den sich ebenfalls viel Interessantes findet) …
Zusätzlich habe ich auch noch einen ganz persönlichen Bezug zu Mary Shelley, denn schliesslich ist sie in Bournemouth begraben, wo ich ein Jahr lang gelebt habe (und oft an der Plakette vorbeigegangen bin – wie interssant/creepy ist der Hinweis auf das Herz von Percy Bysshe Shelley am Ende?)
Und dann ist natürlich die Geschichte unheimlich passend. Ein Wissenschaftler, die titelgebende Figur, der Gott spielt und nicht der Held ist, der er gerne sein würde. Schon als ich das Buch das erste Mal las, war meine Sympathie klar auf der Seite des Monsters. Es ist einsam und wünscht sich lediglich eine Gefährtin, und Frankensteins Argumente, mit denen er diesen Wunsch verweigert, sind für mich wenig überzeugend.
Das schwierige Verhältnis von Schöpfung und Schöpfer spiegelt sich natürlich auch in Leuchten wieder. Sam macht hier übrigens einen faktischen Fehler: er zieht eine Verbindung zwischen dem Gewitter und der Erschaffung des Monsters, die aber so im Buch nicht vorkommt. Genauer gesagt: es gewittert nicht, als Frankenstein seine Kreatur zum Leben erweckt. Dass diese Annahme weit verbreitet ist, beruht einerseits auf falsche Erinnerungen, andererseits auf der Bekanntheit von Verfilmungen, wo der Gewittereffekt oft und ausführlich genutzt wurde.
Wenn wir nun annehmen, dass Alexis sich besser an die Geschichte erinnert, dann ist es nicht das Gewitter, dass ihre Erinnerung ausgelöst hat.
Hans Christian Andersen, Die kleine Meerjungfrau
Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau ist vielen bekannt. Weit weniger bekannt ist dagegen, dass das Original nicht wie viele Versionen für Kinder und viele Verfilmungen (unter anderem Disney’s Arielle) glücklich endet, sondern tragisch – da ihre Liebe nicht erwidert wird, endet die Geschichte für die kleine Meerjungfrau mit dem Tod (nachzulesen auch in diesem Märchensommer Beitrag zu den wahren Enden bekannter Märchen).
Daneben gibt es noch zwei sehr interessante Ansätze zur Interpretation des Märchens. Zum einen eine feministische Deutung (eine junge Frau ohne Stimme, die ihr Glück und ihr Leben von einem Mann abhängig macht), zum anderen die Theorie, dass Christian Andersen mit dem Märchen seine Homosexualität und – damit verbunden – seine eigene unglückliche, unerreichbare Liebe verarbeitet hat.
In Leuchten hat das Märchen eine wichtige Bedeutung für Alexis. Sie sieht sich in der Figur der kleinen Meerjungfrau, die immer weiss, dass sie anders ist und trotz aller Bemühungen – und aller Liebe – nie dazugehören wird. Auch ihr “Opfer” am Ende ist eine Parallele Andersens Version, genau wie die (erzählerische) Tatsache, dass Alexis für weite Teile des Romans nicht wirklich eine eigene Stimme zu haben scheint.
Nimmt man noch die Bedeutung des Elements Wasser und des Meeres in der Geschichze dazu, könnte man durchaus sagen, dass Leuchten Züge einer Märchenadaption ausweist. Einer sehr dystopischen, natürlich.
Bei dem von Alexis am Strand zitierten Sonett handelt es sich um Edmund Spensers Sonnet 75 („One day I wrote her name upon the strand“) aus Amoretti. Die verwendete Version ist meine eigene Abwandlung einer Übersetzung durch Joseph von Hammer-Purgstall.
Das grosse Thema des Gedichts ist nicht die Liebe (obwohl diese zweifelsfrei auch eine Rolle spielt), sondern der Konflikt zwischen der Vergänglichkeit alles Natürlichen und der Ewigkeit der Kunst. Offen bleibt, ob die weibliche Person (“sie”), die der Sprecher durch sein Gedicht verewigen will, eine reale Frau ist, oder die See (das Meer).
Ewigkeit ist auch das grosse Thema in Leuchten, und Geschichten (also Kunst in der Form von Literatur) sind ein Weg, zumindest eine Form von Unsterblichkeit zu erreichen. Als sich Sam am Ende entschliesst, Alexis’ Geschichte zu erzählen, versucht er damit ihr diese Form von Ewigkeit zu geben.
Und was ist mit der Liebesgeschichte ?
Ausgerechnet das Werk, das für Alexis scheinbar so wichtig ist, dass sie ihr Leben dafür riskiert, bleibt titellos. Oder auch nicht – denn einige Leser haben mir versichert, dass für sie die Antwort auf der Hand liegt: Romeo und Julia, die Liebesgeschichte schlechthin. (Dass am Ende laut Alexis der Tod steht, scheint ja ein direkter Hinweis zu sein.)
Doch auch Shakespeare wurde zu seinem wohl berühmtesten Werk inspiriert – vor Romeo und Julia gab es Tristan und Isolde (je nach Version endet diese Geschichte mit dem Tod einer/s der beiden Protagonisten, oder beider) oder Pyramos und Thisbe (ein babylonisches Paar, deren Liebe wegen der Feindschaft ihrer Eltern verboten ist und ebenfalls mit dem Tod endet). Und seit Shakespeare gab es unzählige Werke, die von Romeo und Julia inspiriert wurden.
Die tragische Liebesgeschichte ist also universal – und genau deshalb hat sie hier keinen Namen.
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